Thessaloniki tat uns allen gut

Ein Bericht über unsere Solidaritätsreise im November 2013
von Gerhard Lanzerstorfer

Thessaloniki_0003Am 13. November 2013 machten sich eine Gruppe von GewerkschafterInnen und eine Journalistin aus Österreich auf die Reise nach Thessaloniki. Ihre Intention: Sich vor Ort über die Auswirkungen der Austeritäts-politik informieren, Solidarität zu leben, Hilfe anbieten. Fünf Tage später, auf der Rückreise, sprach ein Teilnehmer aus, was alle spürten: „Die Reise war hilfreich, wichtig, notwendig. Für uns selbst mindestens so sehr, wie für unsere griechischen KollegInnen.“

Zur Vorgeschichte: Griechenland ist zum wirtschaftlichen und sozialen Experimentierfeld des neoliberalen Raubrittertums geworden. Massive Einsparungen im Sozial- und Gesundheitsbereich haben breite Teile der Bevölkerung in Armut und Elend gestürzt. Die Rechte von ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften wurden massiv beschnitten, das Kollektivvertragssystem gesetzlich ausgehebelt und das Streikrecht mittels Notverordnungen, die aus der Militärdiktatur stammen, de facto außer Kraft gesetzt. Der Mindestlohn wurde auf 548 Euro, das Arbeitslosengeld auf 322 Euro gekürzt und die Anspruchsvoraussetzungen dermaßen verschärft, dass ein großer Teil der Arbeitslosen nicht einmal mehr darauf Anspruch hat. Die Arbeitslosenrate liegt aktuell bei mindestens 30%, die Jugendarbeitslosigkeit wird auf 65% geschätzt. Besonders betroffen von der neoliberalen Sparpolitik ist das Gesundheitssystem. Mittlerweile sind 35 bis 40% der Bevölkerung nicht mehr krankenversichert; Medikamente gibt es nur mehr gegen Barzahlung. In den Krankenhäusern fehlt es an Verbandsmaterial, Infusionen und Medikamenten. Vor diesem Hintergrund sind in den letzten Jahren innerhalb der griechischen ArbeiterInnenbewegung zahlreiche Selbsthilfeprojekte entstanden. Die „Klinik der Solidarität“ ist eines davon. „weltumspannend arbeiten“, der entwicklungspolitische Verein im ÖGB, unterstützt dieses Projekt in besonderer Weise.

Solidaritätsreise Thessaloniki, 13. – 17. November 2013

Thessaloniki_0008Erster Tag, erste starke Eindrücke, erste berührende Begegnungen: Die „Klinik der Solidarität“ in Thessaloniki. Sie wird von den AktivistInnen selbstverwaltet geführt. Menschen, die keinen Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung haben, werden hier kostenlos behandelt. Täglich nehmen bis zu 100 Menschen das umfangreiche Angebot in Anspruch. Zudem wird größter Wert darauf gelegt, dass die politische Dimension des Projektes im Vordergrund steht. An PatientInnen wie BesucherInnen ist daher folgender Hinweis gerichtet:

„Die Räumlichkeiten, die Sie gerade betreten, sind weder eine staatliche Einrichtung, noch eine NGO. Sie werden uns unentgeltlich von der Landesorganisation der GSEE (Gewerkschaftsverband) zur Verfügung gestellt, die auch die Strom- und Heizkosten deckt. Die Kosten für Telefon, Medikamente, Impfstoffe, medizinisches Gerät und Medizinbedarf aller Art werden von unterstützenden Gewerkschaften, Kollektiven und Einzelpersonen getragen. Das gesamte medizinische Personal und alle, die Verwaltungstätigkeiten oder andere Arbeiten im täglichen Betrieb der Gesundheitsambulanz, der Zahnambulanz und der Apotheke übernehmen, sind davon überzeugt, dass Gesundheit ein Recht und keine Ware ist. Wir fordern ein öffentliches, allgemein zugängliches und kostenloses Gesundheitswesen für alle (GriechInnen und MigrantInnen)! Wir verurteilen die gegenwärtige Regierung, die es nicht nur verabsäumt, ein solches Gesundheitswesen zu gewährleisten, sondern stattdessen alles unternimmt, um Ihnen – den nicht krankenversicherten Menschen – dieses Recht zu nehmen. Wir spenden keine Almosen, sondern organisieren Solidarität im Kampf für unser Recht auf kostenlose Gesundheitsversorgung. Wir arbeiten ehrenamtlich und verdienen kein Geld. Sie werden hier für nichts bezahlen und wir werden von niemandem bezahlt. Im Gegenteil, sofern wir können, spenden wir Geld aus unseren eigenen Taschen. Wir arbeiten mit größter Sorgfalt und auch unter großen Mühen. Wir widmen den Großteil unserer spärlichen Freizeit, die uns neben unseren Jobs von denen wir leben, bleibt, der Arbeit in dieser Gesundheitsambulanz.“

Der Intensivmediziner Wassili Tsapas:

WT„Wir verstehen uns weder als Charity-Aktion noch als karitative Einrichtung. Da gibt es nicht den einen, der gibt, der spendet und den anderen, der nimmt. Solidarität ist nur auf Augenhöhe möglich. Wir begegnen uns auf der gleichen Ebene, weil wir einander helfen, einander beistehen, jeder auf die Weise, die ihm möglich ist. Und es gibt bei uns keine Chefs und keinen Führer. Alle Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Den Kampf um eine gerechtere Gesellschaft können wir nur gemeinsam führen. Das müssen alle begreifen.“

Das Programm der nächsten Tage war dicht gedrängt…

P1020774Ein Besuch bei den KollegInnen von VIO.ME: Diese Fabrik, am Stadtrand Thessalonikis gelegen, wurde im vergangenen Jahr geschlossen, die Beschäftigten gekündigt. Bis zur Schließung wurden dort Fliesenkleber und ähnliches hergestellt. Teile der Belegschaft halten die Fabrik seither besetzt. Die Produktion haben sie umgestellt. Heute stellen sie in den noch vorhandenen Anlagen vollbiologische Reinigungsmittel her. Seifen, Haushaltsreiniger, Waschmittel, etc. Und durchaus erfolgreich. Makis Anagnostou, der Belegschaftssprecher: „Wir dürfen ja offiziell gar nichts verkaufen. Unsere AbnehmerInnen sind also Leute, die uns kennen. Privathaushalte, einige Lokale … Aber es geht ja nicht nur ums Geld. So lange wir hier tätig sind, sind wir auch etwas wert. Da geht es auch um die Würde. Und deshalb werden wir hier weitermachen, bis man uns mit Gewalt verjagt.“  Beinahe überflüssig zu erwähnen, dass auch hier alle Entscheidungen im Kollektiv getroffen werden….

P1020816Nächster Programmpunkt: der besetzte staatliche Sender ERT. Während die Zentrale in Athen einige Tage zuvor schon durch Sondereinheiten der Polizei gewaltsam geräumt worden war, halten die KollegInnen in Thessaloniki nach wie vor die Stellung. Und so ergab sich auch die Gelegenheit zu einer Diskussion mit den JournalistInnen Aglaia Kyritsi, die aus Athen zu ihren KollegInnen nach Thessaloniki geeilt war, und Anchorman Alexandros Triantafyllidis vom Studio in Thessaloniki.

ERT1ERT2Es waren bemerkenswert offene Gespräche, auch emotional berührend, wie man sie eher unter langjährigen FreundInnen und Vertrauten erwarten würde. Eine Atmosphäre, die in gleicher Weise (bis auf eine Ausnahme) auch bei allen anderen Treffen spürbar war: So, als würde man KampfgefährtInnen willkommen heißen, die man schon lange erwartet hatte.

Thessaloniki_0053Für den selben Tag wie wir, hat sich Alexis Tsipras, der Parteivorsitzende der größten Oppositionspartei, SYRIZA, im Fernsehsender angekündigt. Und so hatten wir die Gelegenheit einen kurzen Blick auf den vielleicht zukünftigen Regierungschef zu werfen.

 

IMG_1223Abendtermin: Treffen mit den regionalen Spitzenfunktionären des Gewerkschaftsverbandes GSEE. Kurzresümee: Offene ehrliche Diskussion, auf der persönlichen Ebene dürfte es zwischen den drei Anwesenden griechischen Kollegen keine große Kluft geben, inhaltlich/ideologisch liegen die Standpunkte doch deutlich auseinander. Insgesamt eine eher schwierige innergewerk-schaftliche Situation, für Außenstehende ziemlich unübersichtlich. Konsequenz: Eine enge gewerkschaftliche Zusammenarbeit wird sich auch in einem projektorientierten Kontext schwierig gestalten, da die Situation österreichischer Gewerkschaften mit jener in Griechenland schwer vergleichbar ist.

IMG_122815. November, Tag 3:

Besuch im größten öffentlichen Krankenhaus Thessalonikis, Treffen mit den dortigen GewerkschafterInnen. Auch hier sind die Einschätzungen und Aussagen der einzelnen Belegschafts-vertreterInnen nicht unbedingt übereinstimmend. Wobei in diesem Fall ein weiteres Spannungsfeld deutlich wird: Einerseits das Bedürfnis, den angestauten Ärger über die frustrierende Gesamtsituation im Gesundheitsbereich abzulassen, andererseits die Verbundenheit mit der Einrichtung, in der man ja nach wie vor tätig ist und sein Bestes gibt. Letztendlich konnte man sich -ein wenig ironisch- etwa so einigen: Die Lage ist schwierig, es gibt durchaus Engpässe in der medikamentösen / medizintechnischen / therapeutischen Versorgung der Patienten, aber irgendwie kommt man bisher über die Runden. Und es ist doch nicht so schlimm wie in manchen anderen Häusern, denn die Versorgung der Patienten mit Essen und Getränken funktioniere immerhin noch relativ gut. Die weitere Entwicklung wird allerdings übereinstimmend düster eingeschätzt: Aus verschiedenen Gründen fließe das wenige Budget, das im Gesundheitssektor noch vorhanden ist, überwiegend in die privatwirtschaftlich geführten Spitäler, was zur Folge hat, dass auch die allernötigsten Investitionen / Sanierungsmaßnahmen in öffentlichen Häusern seit Jahren nicht getätigt werden.

Zwei Nachmittagstermine: Zuerst PASOK, dann SYRIZA.

PASOKDass sich der Besuch in der PASOK Parteizentrale nicht so harmonisch gestalten würde, war zu erwarten. Und dass sich der regionale Parteichef mehr als eine Stunde verspätete, währenddessen die Kernaussagen seines Sekretärs sich im Wesentlichen darauf beschränkten, auf die gestellten Fragen leider nicht hinreichend antworten zu können, verbesserte die Stimmung auch nicht unbedingt.  Dem Chef waren dann die angesprochenen Themen ebenfalls sichtlich unangenehm. Verständlich. Was soll man als Spitzenfunktionär einer sozialdemokratischen Partei sagen, wenn man in einer Regierung sitzt, die sämtliche gewerkschaftlichen Grundrechte aushebelt und Demos blutig niederschlagen lässt?

 

syrizaEine Stunde später in der Parteizentrale von SYRIZA, eine andere Welt: herzliche Begrüßung, entspannte Kampagnenstimmung, Transparente hier, Plakate da, Fahnen, Flipcharts, Slogans dort. Kreativität liegt in der Luft. Freier Zugang in alle Räume, seht euch ruhig um, alles ist okay… Es geht los mit Fragestunde, Plenumsdiskussion. Sieben, acht, neun Vertreter des Bündnisses stehen als Ansprechpartner zur Verfügung. Über die grobe Linie herrscht weitgehend Übereinstimmung: „Nein, es gibt keine aktuelle Absicht, die Euro-Zone zu verlassen.“ Und: „Ja, offene Rechnungen sind ein Thema, über die Modalitäten muss man sich noch unterhalten.“ Und: „Dass es so, wie manche in der EU sich das vorgestellt haben, nicht gehen kann, ist ja mittlerweile allen klar.“  Und: „Was wir jetzt brauchen, ist so etwas wie ein Marshallplan, damit die Wirtschaft wieder angekurbelt werden kann.“ Und: „Erst wenn es einigermaßen läuft, können wir auch sinnvoll über Rückzahlungen sprechen.“

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Kaum ein lauter Gedanke über einen grundlegend neuen Ansatz  in Wirtschaft und Gesellschaft. So viel Vorsicht. So viel Zurückhaltung. Was ist der Grund? Will man niemanden erschrecken?  Liegt es an der eigenen Inhomogenität? Freilich, SYRIZA ist ein junges Bündnis, nicht vergleichbar mit einer hierarchisch geführten Partei üblichen Zuschnitts. Und SYRIZA ist derzeit stark im Aufwind. Laut jüngster Umfrage erstmals mit knapp 22% an der Spitze. Das ist Segen und Fluch in gleicher Weise. Segen, weil es beflügelt, positive Kräfte freisetzt. Fluch, weil es verführt, notwendige interne Klärungen zu unterlassen. Im Aufwind lässt sich vieles so bequem unter dem Teppich halten…

Es sind so viele tolle, kreative, engagierte, positive Menschen in dieser Bewegung zu finden. Es ist ihnen von Herzen zu wünschen, dass es gelingt, den guten Wind dauerhaft zu nützen. Ihnen, den Menschen in Griechenland und dem Rest Europas.

Am Abend der dritte Termin und er bringt wieder eine neue Erkenntnis: der Widerstand, der wirklich praktische, im alltäglichen Leben spürbare Widerstand  ist höchst kreativ, sympathisch unbekümmert und gleichzeitig zäh, mit einer ordentlichen Portion Lebensfreude versehen und er ist vor allem weiblich!
Man kann stundenlang über Für und Wider, über Sinn und Definition von Graswurzel-Bewegungen diskutieren. Oder man kann von den richtigen Leuten eingeladen werden und sie pur und hautnah erleben. Und staunen, was alles wie selbstverständlich aus dem Nichts entstehen kann.

Mitzi„The committee of central Thessaloniki“: Eine Art BürgerInnenkomitee, aus einfacher Nachbarschaftshilfe entstanden. Mittlerweile vernetzt und aktiv bei Problemen mit dem Nationalen Stromversorger, dem Kampf gegen die Wasserprivatisierung, den Arbeitern der besetzten Fabrik BIO.ME, den AktivistInnen von SOS Chalkidiki und als ganz zentrales Projekt der Aufbau des „Market without intermediaries – from all of us to all of you“; ein Projekt, das vor allem den BäuerInnen im Umland von Thessaloniki ermöglichen soll, ihre Waren ohne Zwischenhändler in der Stadt zu verkaufen. Die StadtbewohnerInnen wiederum profitieren von frischer, regionaler Qualität zu günstigeren Preisen als im Supermarkt. Dies alles wird zum ganz überwiegenden Teil von Frauen getragen.  Und während die einzelnen Initiativen vorgestellt und erklärt werden, es ist mittlerweile 22.00 Uhr, erscheinen wie von Zauberhand wunderbare, selbstgemachte Köstlichkeiten auf den Tischen, die Musik wird lauter, Bänke und Sessel werden zur Seite geschoben, das Leben pulsiert. So geht Widerstand.

Thessaloniki_012516.November, Tag 4: Mittags Einladung in ein altes, leer stehendes Haus im Herzen von Thessaloniki. Der dritte Stock ist von jungen Menschen, Studenten vor allem, adaptiert worden. Kunstvoll, mit einfachsten Mitteln, erneut ein Ausrufezeichen an Kreativität. Hier trifft sich also die junge, widerständige Szene. 365 Tage im Jahr geöffnet, selbstverwaltet, mit kleiner, eigenhändig gebastelter Bar  aus sägerauen Holzpfosten, einer kleinen Küche in spartanischer Ausführung, einer beträchtlichen Anzahl höchst unterschiedlicher Sitzgelegenheiten und Tischchen. Getränke und selbst gekochte Speisen zum Selbstkostenpreis, wer sich’s leisten kann mit kleiner zusätzlicher Spende. Vom übrig gebliebenen Geld wird einmal pro Woche, donnerstags, gratis ausgekocht. Für alle, die sich auch das nicht leisten könnten.

 

Thessaloniki_013714.00 Uhr, die Aktivistinnen von SOS Chalkidiki sind eingetroffen. Drei Frauen, natürlich. Sie berichten von der sich anbahnenden Katastrophe auf der paradies-ischen Halbinsel. Ein riesiges Stück Land wurde fast zum Nulltarif an einen kanadischen Bergbaukonzern „verkauft“. Man will Gold abbauen, die Vorbereitungs-arbeiten sind in vollem Gange. Auf einer gewaltigen Fläche. Manche gehen davon aus, dass letztlich die ganze Halbinsel davon betroffen sein wird. Zu allem Überfluss liegen dort auch die wichtigsten Trinkwasser-reservoirs der Region. Dass diese zuallererst ruiniert sein werden, ist allen klar. Goldabbau bedingt den tonnenweisen Einsatz von Chemikalien. Hochgiftige Abfallprodukte werden freigesetzt. Arsen zum Beispiel. Eine der Frauen sagt mit leiser Stimme: „Ich habe drei Kinder, zwei sind noch klein, aber ich schwöre bei Gott, wir werden uns nicht vertreiben lassen.“  Ohnmächtige, hilflose Wut kriecht hoch. Es ist zum Heulen. Alles bleibt still.

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Am späten Nachmittag treffen wir die Initiative gegen die Wasserprivatisierung. Die Beschäftigten der Wasserversorgungs-gesellschaft kämpfen gemeinsam mit der Bevölkerung gegen die von der TROIKA geforderte Privatisierung. Wir sind schon sehr müde, aber der Mut und die Entschlossenheit mit der die AktivistInnen dem Ausverkauf „ihres“ Wassers entgegen treten, hinterlassen einen nachhaltigen Eindruck.

 

17. Dezember, Tag 5: Der Flieger wartet. Abschied vor dem Hotel, Umarmungen.

Zwei Dinge sind völlig klar:
Ja, wir haben sehr viel mehr gelernt, profitiert, mitgenommen von diesem Besuch als umgekehrt.
Und ja, wir werden wiederkommen.
Wir werden unsere KollegInnen und FreundInnen nicht im Stich lassen.
Diese wunderbaren, engagierten, kreativen, kämpferischen, lebensfrohen Menschen in Thessaloniki.